Seit fünf Wochen erörtert das IKRK mit den russischen und ukrainischen Behörden ihre Verpflichtungen im Rahmen des humanitären Völkerrechts (HVR) und die praktischen Schritte, die notwendig sind, um das Leiden der Zivilbevölkerung und all derer zu lindern, die nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, darunter Verwundete, Kranke und Kriegsgefangene. Das IKRK ist zutiefst besorgt angesichts der Tatsache, dass die Parteien bislang nicht in der Lage waren, viele ihrer Kernverpflichtungen im Rahmen des HVR zu erfüllen oder einen Konsens in zentralen Fragen zu erzielen, die nur sie konkret regeln können, insbesondere die folgenden:
Wir machten detaillierte Vorschläge betreffend sichere Fluchtkorridore und Evakuierung von Zivilpersonen, um das unsägliche Leid in Mariupol zu lindern, doch es gibt nach wie vor keine konkreten Vereinbarungen, ohne die wir nicht weiterkommen. Heute müssen Zivilpersonen eine lebensbedrohliche Flucht auf sich nehmen, obwohl es weder eine Feuerpause noch andere Vereinbarungen gibt, die ein sicheres Verlassen der Stadt ermöglichen würden.
Der Zivilbevölkerung in Mariupol und anderen Frontgebieten, die nun schon seit Wochen ohne humanitäre Hilfe auskommen muss, läuft die Zeit davon. Die Streitkräfte vor Ort müssen Zivilpersonen und humanitären Organisationen Sicherheitsgarantien geben und praktische Vereinbarungen treffen, damit Hilfsgüter ankommen und die Menschen, die evakuiert werden wollen, in Sicherheit gebracht werden können.
Zudem müssen die Konfliktparteien das IKRK über die von ihnen festgehaltenen Kriegsgefangenen und andere in ihrem Gewahrsam befindliche Personen informieren und dem IKRK erlauben, sie zu besuchen. Wir erwarten von den Konfliktparteien, dass sie ihren Verpflichtungen gemäss Genfer Abkommen ohne weitere Verzögerung nachkommen.
Die Parteien müssen konkrete Vorschläge für eine würdige Behandlung der Toten umsetzen, damit sie identifiziert, die Familien informiert und die Leichen zurückgegeben werden können.
In dem Bestreben, Gespräche über diese Fragen voranzubringen, das Leiden zu lindern und die Hilfe für Zivilpersonen in Not zu verstärken, reiste der Präsident des IKRK zunächst nach Kiew und dann nach Moskau, um Gespräche mit den Behörden zu führen. Seine Treffen mit Verantwortlichen in Moskau lösten bei manchen Personen Empörung aus. Wir möchten klarstellen, dass diese diplomatischen Treffen mit allen Seiten im humanitären Völkerrecht verankert und mit leidenschaftlichem Eintreten für das Wohl der vom Konflikt betroffenen Zivilpersonen verbunden sind.
Zugleich können vorsätzliche und gezielte Angriffe und diesbezügliche falsche Berichte und Falschinformationen, mit denen das IKRK in Verruf gebracht werden soll, den IKRK-Teams, unseren Partnern in der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, die vor Ort tätig sind, und den Menschen, denen wir zur Seite stehen, grossen Schaden zufügen. Während der Bedarf von Stunde zu Stunde steigt, werden unsere Möglichkeiten, dringend benötigte humanitäre Hilfe zu leisten, heute durch eine Welle von Falsch- und Desinformationen über unsere Arbeit und die Rolle, die wir bei der Linderung von Leiden in bewaffneten Konflikten spielen, gefährdet.
Eine Aussage, die nicht der Wahrheit entspricht, ist die Behauptung, das IKRK spiele eine Rolle bei Zwangsevakuierungen. Das IKRK war und ist nicht an Zwangsevakuierungen oder Zwangstransfers von Zivilpersonen aus Mariupol oder einer anderen ukrainischen Stadt nach Russland beteiligt. Um es ganz klar zu sagen:
Wir würden niemals eine Massnahme unterstützen, die sich gegen den Willen der Menschen richtet.
Es gibt eine weitere Behauptung über unsere Arbeit in Russland, die nicht der Wahrheit entspricht. Um es klar zu sagen: Das IKRK will kein Büro im Süden Russlands eröffnen, um Ukrainer „herauszufiltern", wie in vielen Berichten behauptet wird. Wir eröffnen weder ein Flüchtlingslager noch irgendeine andere Art von Lager.
Dies sind die Fakten: Das IKRK erwägt die Eröffnung eines Büros in Rostow im südlichen Russland, wo wir derzeit kein Büro haben. Dies ist Teil einer umfangreichen regionalen Ausweitung zwecks Bewältigung einer massiven humanitären Krise und zwecks Deckung des Bedarfs der Menschen, wo immer sie sich befinden. Wir haben bereits Teams in Belarus, Ungarn, Moldawien, Polen und Rumänien.
Abschliessend sei festgehalten, dass neutrale und unparteiische humanitäre Arbeit respektiert werden muss, und zwar sowohl unsere eigene als auch die der anderen. Es
geht hier um mehr als nur um das IKRK. Neutralität und Unparteilichkeit sind keine abstrakten Konzepte oder hehren Prinzipien ohne Bezug zu den Erfahrungen der Menschen im wirklichen Leben. Sie sind ein Mittel zum Zweck, eine Arbeitsweise, die es uns ermöglicht, Zivilpersonen zu erreichen, ihnen zu helfen und in vielen Fällen
das Leben zu retten – ganz gleich, auf welcher Seite der Front sie sich befinden. Unsere Anwesenheit dient der Unterstützung und dem Schutz und sollte niemals als
Legitimation von Souveränitäts- oder Gebietsansprüchen verstanden werden, die ausschliesslich das Recht und die Pflicht der politischen Akteure sind.
Dies ist die Art von Arbeit, die Menschenleben rettet und verändert, und die uns und anderen in der Ukraine und den Nachbarländern erlaubt sein muss, damit der massive und zunehmende humanitäre Bedarf, dessen Ursache der zwischenstaatliche bewaffnete Konflikt ist, bewältigt werden kann.
Seit 2014 ist das IKRK in der Ukraine tätig und unterstützt die vom Konflikt betroffenen Menschen. Seit der jüngsten Eskalation der Krise haben wir angesichts des sprunghaft ansteigenden humanitären Bedarfs mehr als 500 Tonnen Sanitätsmaterial, Nahrungsmittel und Hilfsgüter in das Land gebracht. Wir werden unsere Arbeit weiter ausbauen und haben jetzt Teams an zehn Standorten im ganzen Land.
Eine Welt ohne neutrale und unparteiische humanitäre Hilfe ist ein trostloser und gefährlicher Ort für die Opfer von Konflikten und für uns alle.
Wir rufen die Parteien auf, diese Hilfe sicherzustellen, ihren Verpflichtungen gemäss dem humanitären Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung im Konfliktfall unverzüglich nachzukommen und neutrale, unabhängige und unparteiische humanitäre Hilfe zu ermöglichen.
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